Gestern - Gerhards Welt

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Gestern

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Gestern, als ich noch ein Junge war..
Leise, mal langsam, mal schnell bewegt sich der Minutenzeiger auf die volle Stunde zu.
Tick - jede Sekunde in dem ich meinen Herzschlag spüre, nähert sich das Ende des Jahres.
Mitternacht rückt unaufhaltsam näher.

Gestern - als ich noch ein Junge war - habe ich diesen Moment voll UngeDuld und Sehnsucht erwartet.

Nur nicht diesen Moment, wenn sich alle drei Zeiger auf dem Ende und dem Anfang des Jahres treffen, verpassen.
Wenn das alte Jahr endlich vorbei ist.

Endlich die Raketen in der kalten Winternacht zu zünden.
Heute - als Mann - weis ich dass Raketen nicht nur zu den Sternen fliegen und sehe diesem Moment trotzdem noch immer mit klopfendem Herzen entgegen.

Nicht in der Erwartung des Feuerwerks.
Nicht in der Erwartung der knallenden Sektkorken.
Vieles wird sich zu diesem Zeitpunkt ändern.
Vieles wird sich nicht ändern.
Verträge die zu diesem Zeitpunkt enden.
Versprechen die nicht eingelöst wurden.
Vorsätze die nicht umgesetzt wurden.

Wie jedes Jahr an diesem Tag. Und doch jedes Mal anders.

Gestern - als ich noch ein Junge war - hüpfte ich beim Spaziergang mit meinem Vater an den Weggabelungen hin und her. Welchen Weg soll ich gehen?
Mal links, mal rechts und dann - einfach in den Wald hinein. Irgendwann allein, hilflos mit meiner Unschlüssigkeit, mit meiner Angst.

Heute - als Mann - weis ich, dass ich mich jeden Tag entscheiden muss um nicht ziellos herumzuirren. Für mich selbst - oder für Andere. Ob richtig oder falsch.
Die Angst ist geblieben.

Gestern - als ich noch ein Junge war - stand ich oft hoch oben auf einer Mauer und lies mich voll Vertrauen in die Arme meines Vaters fallen.
Heute - als Mann - fällt es mir schwer solches Vertrauen in einen anderen Menschen zu setzen - mich fallen zu lassen - mich ihm anzuvertrauen.

Gestern - als ich noch ein Junge war - ging ich Hand in Hand mit meinem Freund die Strasse entlang, spazierte mit ihm am Fluss und glaubte, dass es dafür niemals ein Mitternacht - ein Ende - geben würde. Meine Augen strahlten.

Heute - als Mann - weis ich , dass eine Hand halten nicht das gleiche bedeutet wie eine Seele halten. Dass es oft nur ein Stück des Weg zusammen gehen ist um sich dann verabschieden zu müssen.
Auf Wiedersehen oder Lebewohl zu sagen.
Von manchen für immer - ohne sich verabschieden zu können.

Gestern - als ich noch ein Junge war - war der Schmerz darüber übergross. Ich wünschte endlich ein Mann zu sein um das alles leichter ertragen zu können.

Heute - als Mann - der Schmerz ist immer noch genauso schwer zu ertragen, schmecken die Tränen immer noch genauso salzig, bricht der Glanz in meinen Augen.

Gestern - als ich noch ein Junge war - warf ich achtlos Steine in einen See und versuchte, so schnell es ging den Wellen auszuweichen.

Es gelang mir nie.
Sie haben mich eingeholt und hochgehoben.
Oben verhallten meine Schreie in der endlosen Wasserwüste - unten im Tal ertrank ich mit meiner Stimme.

Heute - als Mann - sehe ich noch immer fasziniert auf den Stein der über die Wasseroberfläche fliegt, ein paar Sekunden später in den Fluten versinkt und wieder ein paar Sekunden später mich die ersten Wellen erreichen - ohne ihnen ausweichen zu können.

Gestern - als ich noch ein Junge war - wusste ich noch nicht dass die Vergangenheit der Zukunft die Gegenwart beeinflusst.
Heute - als Mann - höre ich das Ticken des Sekundenzeigers anders.
Sehe das Feuerwerk anders.

Versuche mit den Augen meiner Tochter die Welt anders zu sehen - zusammen mit meinem Freund von der Mauer zu springen und in unseren Armen aufgefangen zu werden.

Weis ich, dass dieser Jahreswechsel an jedem Tag ist.
Heute - am letzten Tag meines bisherigen Lebens - spüre ich, dass ich selbst der Sekundenzeiger bin - der Stein sein muss.
Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zu sein
um nicht in den Fluten zu versinken.

Mann und Junge sein muss um wieder Träume zu den Sternen zu senden - und sie zu leben - wieder diesen Glanz in den Augen zu haben - nicht zu warten auf Gestern.
Nicht Morgen - sondern in diesem Augenblick -

am ersten Tag vom Rest meines Lebens.


© Text rainer böhm - Musik © Mikis Theodorakis (Griechenland)

 
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